Neujahrsrede

Christian Horn, Neujahrsempfang der Stadt Altenburg, 3.2.2017, Goldener Pflug

Es gilt das gesprochene Wort.

"Eingerahmt von der Politik in Person des Oberbürgermeisters und der Wirtschaft in Person von Herrn Hundt (als Vertreter des neuen touristischen Vermarkters) möchte ich nun einige Überlegungen zur Situation und Perspektive der Kultur in Altenburg in den Raum stellen.

Ich danke Ihnen, lieber Herr Wolf, für diese Möglichkeit.

Den einen oder die andere von Ihnen nehme ich mit den folgenden Ausführungen vielleicht auch mit auf eine kleine Achterbahnfahrt der Eindrücke. Wir Kulturleute rücken die Dinge mitunter ein wenig unverstellter, ähnlich wie Künstler, ins Bild. Sehen Sie es mir bitte nach, wenn der eine oder andere Passus etwas spinnerter oder auch drastischer wirken mag.

 
Noch 10 Minuten bis Altenburg
oder auch
Eine Geschichte braucht eine Story

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Regis-Breitingen. Noch 10 Bahnminuten, 10 Streckenkilometer bis nach Altenburg. Der Zug nimmt wieder an Fahrt auf. Aus dem Fenster fällt der Blick rechts auf ein Schützenhaus, links Felder. Ganz oben am Himmel nutzen Zugvögel, die keine Tarifverträge haben, ihre Gleitzeit: Apfelbäume, Hochspannungsmasten recken sich ihnen entgegen, Solaranlagen breiten sich als moderne Bodendecker über ehemaligen Ackerflächen aus. Der Tag erwacht. Ein Morgen zwischen dem November des alten Jahres und dem Januar des neuen Jahres. Ein Morgen eigentlich wie viele — für diesen Vortrag jedoch um einige Ereignisse verdichtet.

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Auf der Tagesordnung heute: das Auftakttreffen für die Kulturkonzeption der Stadt Altenburg. Dabei sind: Das Lindenau-Museum, Theater und Philharmonie Thüringen, Stadtbibliothek, Stadtarchiv, Staatsarchiv, Paul-Gustavus-Haus, die Musikschule, das Mauritianum, der Schloss- und Kulturbetrieb.

Zwei Dutzend Personen werden debattieren. Es besteht Einigkeit: Altenburg muss besser vermarktet werden. Die Kultur Altenburgs braucht eine Marke, die weit über die Stadt hinaus strahlt.

Und es gibt Stimmen, denen das zu wenig ist. Eine Kulturkonzeption, die auf Marketing reduziert ist? Lasst uns auch gemeinsam inhaltlich und programmatisch arbeiten, lautet die Forderung.

Bei der Arbeit an einer Kulturkonzeption für Altenburg, die dem Schloss- und Kulturbetrieb aufgegeben worden ist, soll es mindestens um die Vermarktung gehen. Und bereits dies wäre ein großer Schritt. Bisher werden wechselweise Skat, Rote Spitzen, das Lindenau-Museum oder das Residenzschloss als kulturelle Highlights in den Vordergrund gerückt. Es gibt einfach keine gemeinsame Richtung, keine übergreifende Idee, kurz: keine gemeinsame Story.

Der Schloss- und Kulturdirektor, der jetzt hier vorne spricht, kann die Ergebnisse der Kulturkonzeption übrigens nicht erzwingen. Er ist nicht — wie zum Beispiel in Jena als Leiter eines städtischen Eigenbetriebes oder in Leipzig als Kulturdezernent — allen Kultureinrichtungen vorgesetzt. Er hat hier in Altenburg nicht die Regie über das Theater, Museen und Bibliotheken bis hin zum Marktamt der Stadt. Wir alle müssen uns darüber bewusst sein, dass eine Kulturkonzeption für Altenburg nur gelingen kann, wenn wir gemeinsam klug analysieren und dann kraft Überzeugung auch im Außenauftritt zusammenrücken. Der Schloss- und Kulturbetrieb als größter Kulturakteur in ausschließlich städtischer Trägerschaft ist in diesem Prozess ein Primus, aber eben nur inter Pares.


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Die Dinge mit der Kulturkonzeption sind andererseits auch einfacher, als wir denken. In verschiedenen Konzeptpapieren vergangener Jahre sind die Besonderheiten des Altenburger Kulturangebotes auffallend ähnlich herausgearbeitet. Welches sind diese Potenziale, oder “Assets”, wie es im Wirtschaftsenglisch heißt?

Altenburg verfügt über 1000 Jahre authentische Bauzeugen und Sehenswürdigkeiten aus feudaler, klerikaler und urbaner Geschichte. Das soll der Stadt erstmal jemand nachmachen! Merseburg, Meißen, Wittenberg kommen dem nah. Sie haben Schloss- und Kirchenarchitekturen, ebenfalls Rathäuser der Renaissance. Doch, wenn wir nochmals genauer hinsehen: Sie verfügen über keine Klosterarchitektur, die den Roten Spitzen das Wasser reichen könnte, nicht über einen derartigen Reichtum historischer Handelsplätze in einem mittelalterlichen Stadtbild und auch nicht über das Spektrum von Kulturbauten, wie sie in Altenburg als einer weiterhin bestehenden Residenzstadt im 19. Jahrhundert entstanden sind.

Altenburg, das ist keine Übertreibung, lässt also diese Städte hinter sich, von großen Städten wie Erfurt, Dresden oder Berlin ganz zu schweigen — wenn man eben das Spektrum historischer Bauwerke der letzten zehn Jahrhunderte zum Maßstab macht.

Und was dieses Geschenk noch schöner macht: Wie lässig lassen sich hier die Dinge in wenigen Minuten und in pittoresker Umgebung ohne Autoabgase und ohne drängelnde Touristenscharen erlaufen.


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Der Zug hat sich inzwischen zwei Kilometer weiter durch den kalten Wintermorgen nach Altenburg geschoben. In der Sitzgruppe hinter mir schwätzen zwei Schulkinder ohne Punkt und Komma. Vielleicht sind sie 11 oder 12 Jahre alt.
Der Junge meint plötzlich: “Ich möchte da hinten sein. Wo der Sonne ist. Da ist warm. Da ist Afrika. Es ist weit weg, aber ganz groß.”
Ich blicke auf. Am Horizont erhebt sich eine tief orange leuchtende Sonne.
Das Mädchen, das bei dem Jungen sitzt, antwortet: “Afghanistan ist klein, so klein. Afghanistan ist Schnee.”


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Ja, wir müssen die Dinge hier in Altenburg größer und deutlicher sehen. So wie die Sonne, die der Schuljunge aus Afrika dahinten am Horizont sieht und sich dabei an seinen Kontinent erinnert.

Bilder und emotionale Botschaften, die für unsere gemeinsame Story stehen, sind für die Markenführung und Marketing wichtig. Herr Hundt des neuen touristischen Vermarkters wird uns das noch deutlich machen. Jede große Zeitung, jede Werbemaßnahme macht mit einem emotionalisierten Bild auf, hinter dem die eigentliche Story dann beginnt. Das müssen wir auch in Altenburg in Zukunft besser machen. Eine Marke benötigt  etwas Gefühltes. Paris ist die Stadt der Liebe, Rom die ewige Stadt, New York steht für Anything Goes und Berlin ist armabersexy. Und was sind wir?


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Treben-Lehma. Der Zug hält kurz an einem unbefestigten Bahnsteig. Er rollt dann neben einer schmalen geteerten Straße in die Landschaft wieder hinaus. Böschungen werfen sich nun dem Blick über die Wiesen und Felder in die Quere. Es wird hügeliger. Im Westen große Windräder. Noch sieben Minuten bis Altenburg.


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Wie anders Altenburg aus dem Zug aussieht! Es ist mir erst aufgefallen, als ich zwei Mal mit dem Auto aus Leipzig nach Altenburg gefahren bin. 60 hektische, von Ampeln, Kreuzungen und Geschwindigkeitsbeschränkungen malträtierte Minuten. [Unser Oberbürgermeister packt das natürlich schneller.]

Im Gegensatz zu der Autofahrt von Leipzig nach Altenburg sind es mit dem Zug lediglich 45 Minuten, und dies um so komfortabler. Niederflor, sauber, moderne Technik, keine lauten Motoren. Naherholung.

Nach den 60 Minuten im Auto hingegen steige zumindest ich von den vielen Verkehrshindernissen auf dem Weg nach Altenburg gestresst auf dem Schlosshof aus. Altenburg ist - aus Leipzig betrachtet - eine Stadt mit zwei Gesichtern: Per Bahn ein gemütlich zu erreichendes idyllisches Städtchen vor den Toren Leipzigs, mit dem Auto ein mühsam zu erreichender Ort hinter den sieben Schilderwäldern.

Ich erzähle dies nun, weil es zumindest mein Herangehen an kulturelle Arbeit illustriert.  Und ich unterstelle, dass viele Kulturakteure dieses Verständnis teilen: Es geht darum, den Wahrnehmungsapparat für die Dinge der Welt aufzustellen, sich über Perspektiven zu unterhalten, Differenzen sichtbar zu machen. Das unterscheidet uns von Politikern. Sie müssen sich auf ein Ziel festlegen und dieses möglichst schnell erreichen. Wir Kulturleute hingegen halten die Dinge – willentlich – in der Schwebe.

Kultur ist also im Prinzip der Unterschied des Blickes auf die Welt, wie er sich auf den zwei Anreisewegen aus Leipzig nach Altenburg ergibt, obwohl es sich um ein und dieselbe Stadt handelt.

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Und welche Blicke und Perspektiven können wir in Altenburg auf mitteldeutsche, ja europäische Geschichte werfen! Nicht nur auf die Protagonisten der Geschichte, sondern auch auf ihr Ringen mit der Geschichte. Barbarossa machte den Ort zu einem östlichen Vorposten. Margaretha von Österreich, dieses Mutter Gaia von Mitteldeutschland, zog hier ihre Söhne groß, die zu den Stammvätern des heutigen Thüringens und Sachsens wurden. Von hier aus wirkte Spalatin als Schutzengel Luthers, der die Welt in katholische und protestantische Lager teilte. Hier machte Brockhaus sein erstes großes Geld, als er sich über die preußische Zensur hinwegsetzte und über den Verlauf der napoleonischen Kriege berichtete.


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Die S-Bahn, deren Abteil mir als Kulisse für diese Rede dient, passiert nun die Altenburger Stadtgrenze. Rechts der See, um den stämmige Rinder im Morast stampfen und die Vögel auf dem Wasser gleich Burgherren vor Unheil zu schützen scheinen.

Ein Fahrgast neben mir hat keinen gültigen Fahrschein. Die Erklärung dafür, die eigentlich plausibel ist, hilft ihm gegenüber der Schaffnerin rechtlich nicht. Die Situation eskaliert in Sekundenschnelle.

Sie: “Ich hole die Polizei.”
Er: “Machen Sie es.”

Die Schaffnerin geht zum Zugführerstand. Er berichtet von seinem Auslandseinsatz in der Bundeswehr.

“Ich war Gebirgsjäger, habe da gelegen und geschossen. Ich habe auf alles geschossen, was Mensch ist. Ich konnte nicht mehr unterscheiden. Früher hatte ich eine Spielzeugpistole, dann konnte ich nicht mehr unterscheiden. Ich bin zum Arzt, habe gesagt: Dicker ich muss hier raus. Er meinte, “die lassen dich nicht raus”. Ich hab im gesagt, ich bin fertig.“

„Wie lang ist das her?“, frage ich.

Er: „Drei Jahre. Ich will nur zurück, zurück in mein altes Leben. Ich bekomme die Erinnerungen nicht los. Ich will das aus meinem Gehirn schneiden. Aber es sitzt fest. Das was ich habe, ist unheilbar. Niemand wird das los. Ich lebe noch. 3 von 30 sind tot.”

Als die Schaffnerin zurückkommt und ihm ein Strafgeld aufbrummt, rastet er aus, reißt am Gestühl und brüllt durch das Abteil: “Mein Rucksack hier ist voller Waffen. Ich mache Dich fertig. Weißt, du wie das geht, ja, weißt du wie das geht? Du Fotze, Du Schlampe, ich habe Dein Land verteidigt, jetzt willst Du mich hier rausschmeißen. Dein Land, dein Land!”

Er setzt sich wieder in den Sitz, sackt in sich zusammen und fängt an zu weinen.


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Politische Umbrüche halten uns auch in Altenburg in Atem. Der Wohlstand in Deutschland, der Speckgürtel auch um Leipzig wachsen. In Altenburg sind die Grundstückskäufe von Bürgern aus Leipzig im letzten Jahr sprunghaft angestiegen. Zugleich gibt es auch hier die wirtschaftlichen Verlierer, Menschen, denen Halt und innerer Frieden nicht gegönnt sind. Und wie immer diejenigen, die zu Sündenböcken für Dinge gemacht werden, die ihnen gar nicht zuzurechnen sind. Das Klima der Anfeindungen in den Medien, sozialen Netzwerken und auf den Bürgersteigen hat sich beängstigend verschlechtert. Kultur kommt gerade in solchen Momenten eine besondere Verantwortung als Ort des Dialoges und der Akzeptanz zu. Sie braucht dazu auch die Politik an ihrer Seite, die sich vernehmbar zu ihrem Anwalt macht.


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Der Zug rollt im Bahnhof von Altenburg ein.
Der Schuljunge sagt:
“Wir haben jetzt English, Bio, Mathe”
Das Mädchen meint:
“Ich mag Physik, da gucken wir immer Filme.”
Und er sagt:
“Wir machen da immer eine Experiment”.

Experiment? Es ist kein schönes Wort. So hart. Und x-ig. Viel schöner sind da doch weiche Worte wie “Neujahr” oder “Geldseegen”. Selbst “Bahnhof” klingt versöhnlicher. Oder „4. Philharmonisches Konzert“ (Klammer auf: Herr Arnold von Theater und Philharmonie Thüringen hat mich kurzfristig gebeten, darauf hinzuweisen, dass das 4. Philharmonische Konzert mit dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera am 2. Februar um 20:03 Uhr in Deutschlandradio Kultur gesendet werden wird – diese Botschaft habe ich damit auch in dieser Rede eingebaut.)

Doch lassen wir uns vom Klang des Wortes nicht leiten. “Experiment” ist ein tolles Wort! Was gibt es Schöneres, als Dinge auszuprobieren, Versuche zu wagen. Altenburg brummt von diesen Experimenten. Es gibt da die großen Vorhaben wie die Neukonzeption des Lindenau-Museums, die neuen Stationen des Mauritianum in Thüringen, das Projekt Cohn-Buck-Levy durch Theater und Philharmonie Thüringen, die Ausweitung der Dauerausstellung im Residenzschloss oder die Vorbereitungen zur Bewerbung für die Landesgartenschau 2024. Und dann gibt es diese begeisternde Vielfalt von Freundes- und Unterstützerkreisen, von Geschichtswerkstätten, von ehrenamtlichen Kulturveranstaltern, von Spiele-Besessenen, von Laiendarstellern, von Sängerinnen, von Musikern, von Sportlerinnen, von Malerinnen und Druckern, von politischen Initiativen, von um den Tier- und Naturschutz Bemühten und und und.

Und lange bevor kulturpolitische Buzz-Words wie “Kulturelle Vermittlung” und “Inklusion” die Runde machten, wurde das Wissen um die Schätze dieses Kulturstandortes bereits an künftige Generationen in bewundernswerter Vielfalt und Lebendigkeit weitergegeben: Siehe Studio Bildende Kunst, siehe Kinderkolleg im Mauritianum, siehe die Musikschule, siehe die Theaterpädagogik und siehe auch die Kartenmacherwerkstatt des Schloss- und Kulturbetriebes, siehe die Schar der Ehrenamtlichen.


Der Zug kommt im Bahnhof von Altenburg zum Halt. Ein bloß imaginärer Morgen zwischen dem November des alten Jahres und dem Januar des neuen Jahres. Altenburg ist eine Stadt für Entdecker mitteldeutscher und europäischer Geschichte aus zehn Jahrhunderten, ein Erlebnisort unverfälschter feudaler, klerikaler und urbaner Architektur, der in Mitteldeutschland seines gleichen, vor allem aber nun eine gemeinsame Story und ein gemeinsames Bild sucht."